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Anton Reiser

Karl Philipp Moritz

Anton Reiser wächst im ausgehenden 18. Jahrhundert in ärmlichen Verhältnissen in Hannover in einer empathielosen, fanatisch pietistisch geprägten Familie auf. Er durchlebt eine bisweilen grausame, von Ausgrenzung und Erniedrigung geprägte Kindheit und Jugend. Sein Wissensdurst und sein stark ausgeprägter Wunsch zu lernen, lässt ihn dabei manch hellere Momente erleben, die aber zumeist von einem sicheren Absturz gefolgt werden. Schließlich sucht er seine Unabhängigkeit von diesen Widrigkeiten in der Flucht und geht mit dem Ziel Schauspieler zu werden auf Reisen.

Über diesen großartigen psychologischen Roman aus dem letzten Teil des 18. Jahrhunderts wurde bereits von vielen und viel kundigeren Rezipienten eine Einschätzung gegeben. Deshalb nur ein paar kurze Eindrücke und Lesarten: Zuallererst handelt es sich um ein Stück eigenständiger Literatur, die den Text aus der gewöhnlichen kulturhistorischen Zuordnung heraushebt. Man spürt die, auch im Text den ‘guten Versen’ unterstellte, Intensität persönlicher Erfahrung. Diesen subjektiven, autobiographischen Gehalt vermischt Moritz mit einer übergeordneten psychologischen Betrachtung des Verhältnisses zwischen Erfahrungen mit der Umwelt und deren Auswirkungen auf Charakter, Handlungsmotivation und sozialen Verhaltensmustern im Individuum.
Die Lebensreise des jungen Anton Reiser ist exemplarisch im Namen des Protagonisten angelegt und bestimmt diese Metapher zum Spiegel menschlichen Werdens. Wie bei einer Reise wird vieles von den Umständen und äußeren Bedingungen, dem Gepäck, Unfällen, zufälligen Begegnungen und eigenen Entscheidungen, Umwegen und Zieländerungen geprägt. Immer aber steht ein fühlendes, mit seiner Umwelt eng vernetztes Individuum mit einem Ziel im Mittelpunkt, dass nicht erreicht werden muß oder vielleicht auch nicht kann.
Darüber hinaus wirft der Text auch übergeordnete Fragen auf. Wie nach dem Menschen, der von Natur guter Gesinnung ist, gegenüber demjenigen dem durch ein kulturelles Korsett, dass moralisch richtige Handeln abgerungen wird. Oder nach der richtigen Gesinnung von Lehrkräften zur Erziehung junger Menschen.
Der Lesefluss wird dem modernen Leser wenig durch die ungewohnte Ausdrucksweise der Zeit gestört, da die darin ausgedrückten Gedanken den heutigen Lesern zeitlos nahe sind. Der Mensch des 18. Jahrhunderts ist in seiner grundlegenden kulturell und psychologisch geprägten Konstitution dem heutigen Menschen doch sehr ähnlich.

Autor/in:Karl Philipp Moritz (1756–1793)
Genre:Entwicklungsroman, Sturm und Drang, Psychologische Literatur
Verlag:Martin Mörikes Verlag, München, 1912
Erstveröffentlichung:bei Friedrich Maurer, 1785