Ich spucke auf euch - Bericht einer Frau am Punkt Null
Nawal El Saadawi
Bei einer Untersuchung Saadawis zum Thema Neurose im Kairoer Qanatir-Frauengefängnis wird ihr von einer ungewöhnlichen Insassin berichtet, die auf ihre Hinrichtung wartet, eine Begnadigung ablehnt und niemanden an sich heranlässt. Als sie es bereits aufgegeben hat, ein Gespräch mit der Gefangenen führen zu können, wird sie unvermittelt von einer Gefängniswärterin doch noch zu ihr in die Zelle gebracht. Es ist bereits der letzte Tag vor der Hinrichtung der Gefangenen. Firdaus, so wird sie gerufen, gibt ihrer Zuhörerin ein Zeichen sich auf den Boden zu setzen und zuzuhören. Dann beginnt sie mit einem Bericht ihres Lebens, woher sie stammt und wie sie ihr Weg bis an diesen Ort führte. Sie erzählt, wie sie von Ihrem Vater missachtet, von ihrer Mutter verstümmelt, von ihrem Onkel missbraucht und von anderen ausgenutzt, gequält, zwischenzeitlich gerettet und wieder enttäuscht wurde. Ihr Lebensweg lässt sie von einem träumenden, naiven Mädchen zu einer selbstbewußten, starken Frau werden, die ohne Hoffnung, am Ende ihre Angst vor dem Tod überwindet.
Der Text ist im Ägypten der 70er Jahre entstanden und beschreibt die Situation von Frauen in einer von Männern hyperdominierten Gesellschaft. An der aus armen Verhältnissen stammenden Firdaus wird exemplarisch sichtbar, dass Frauen in dieser Situation kaum Rechte an sich selbst besitzen, insbesondere solange sie sich auf die Rechtsnormen des dominierenden Geschlechts berufen. Allein die Brechung dieser Normen verschafft Firdaus ein geringes Maß an Selbstbestimmung. Achtung allerdings wird ihr weder als normgerechte Angestellte noch als normenbrecherische Prostituierte entgegengebracht. Die Illusion einer vollwertigen Mitgliedschaft innerhalb der Gesellschaft würde nur erfüllt, wenn sie sich mit Ihrer Rolle als minderwertige und minderrechtsfähige Person abfände oder sogar identifizierte.
Der deutsche Titel wurde von Saadawi als zu reißerisch kritisiert - im englischen lautet die Übersetzung ‘Firdaus - Women at point zero’. Damit unterstreicht sie ihren Anspruch zu beschreiben, aufzuzeigen und gerade nicht über das plakative Wort anzugreifen. Der Angriff ist nach dieser Vorstellung die Wirklichkeit selbst, die mit Firdaus und ihrer tragischen Geschichte, in der melodiösen Sprache Saadawis, dem unabhängigen Indivuduum und im Besonderen den Frauen in einer patriachalen Welt eine Stimme geben.
[Anmerkung zur Übersetzung] Das arabische Original wurde aus dem Englischen von Anna Kamp ins Deutsche übersetzt.
Autor/in: | Nawal El Saadawi (1931–2021) |
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Genre: | Gegenwartsliteratur |
Verlag: | Frauenbuchverlag, 1983 |
Originaltitel: | »امرأة عند نقطة الصفر (Imraʾa ʿinda nuqṭat aṣ-ṣifr)«, bei Dar al-Adab, Beirut, 1977 |