Das Schneckenhaus - Tagebuch Eines Voyeurs
Mustafa Khalifa
Der namenlose Ich-Erzähler studiert in Frankreich Regie und kehrt nach sechs Jahren, am Anfang der 80er Jahre des letzten Jahrhunderts, in seine Heimat Syrien zurück, jenes Syrien von Hafiz al Assad. Noch am Flughafen von Damaskus wird er von der Geheimpolizei abgeführt und in deren Zentrale gebracht. Dort wird er gefoltert und ohne jegliche Anhörung oder Anklage in das berüchtigte Wüstengefängnis Tadmor gebracht. Als Christ, unter der parodoxen Annahme ein Anhänger der Muslimbrüder zu sein, wird er die nächsten zwölf Jahre dort verbringen. Bei der Ankunft in Tadmor werden die neuen Gefangenen einer grausamen Prozedur unterzogen bei der immer einige zu Tode gefoltert werden und der Erzähler nur knapp dem Tod entgeht. Im weiteren Verlauf gehören neben den massenweisen Hinrichtungen, willkürliche Morde, sadistische Erniedrigungen und grausame körperliche Züchtigungen durch die Militärpolizei zum Alltag der Gefangenen. Seine christliche Herkunft und das atheistische Bekenntniss führen dazu, dass er in den Massenunterkünften unter den zum Teil fanatisierten Muslimbrüdern auch von dieser Seite völlig isoliert lebt. Zur alltäglichen Todesdrohung durch die Militärpolizei kommt die Gefahr durch die extremistischen Mitinsassen. So begibt er sich in eine Art Schneckenhaus, mit einer Decke über dem Kopf, kein Wort redend, über Jahre nur seine Umgebung beobachtend und im Kopf einen Roman schreibend.
Der Autor, Mustafa Khalifa, hat selbst eine 12-jährige Gefangenschaft erlebt und davon einige Tadmor-Jahre. Einiges an dieser Geschichte ist nach eigener Aussage autobiographisch und anderes wurde aus Erzählungen von Mitgefangenen genommen. Die detaillierte und dabei lakonische Schilderung brutalster Szenen lässt ebenfalls darauf schließen, dass der Autor aus einer gewissen sprachlichen Distanz zwar, aber aus eigener Erfahrung spricht. Und wie man im Buchdeckel erfährt, hat Amnesty International die Folterpraktiken unter der syrischen Regierung Hafiz al Assads, wie sie hier beschrieben wurden, verifiziert.
Am Beginn steht ein Schock, der es schwer macht weiterzulesen. Bemerkenswert und beschämend zugleich ist eine langsame Gewöhnung an die erzählten Grausamkeiten, die mit der Zeit den Lesenden erfasst. Dabei ist es nicht vorstellbar unter diesen Bedingungen zu überleben. Und wir Lesen weiter, lesen eher aus der Sicht des Forschenden Geistes, eine erschreckende und nicht vorstellbare Wahrheit zu ergründen.
[2008, ein Jahr nach der Erstveröffentlichung auf Französisch, wurde es von Dar al-Adab in Beirut auf Arabisch unter dem Titel »Al-Qawqa’a: Yawmiyyat Mutalassis« veröffentlicht.]
Autor/in: | Mustafa Khalifa (*1948) |
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Genre: | Autobiographie, Gegenwartsliteratur |
Verlag: | Weidle, 2019 |
Übersetzung: | Aus dem Arabischen von Larissa Bender |
Originaltitel: | »La Coquille - Prisonnier politique en Syrie«, bei Actes Sud (auf Französisch), 2007 |