Die Amsel
Robert Musil
Robert Musil erzählt in seiner Novelle ›Die Amsel‹ drei Geschichten mit einem autobiographischen Hintergrund und wenn man die Rahmenhandlung mit einbezieht, sind es mindestens vier.
Zunächst beginnt ein Erzähler, die beiden Hauptpersonen einzuführen, Aeins und Azwei. Er beschreibt, unter welchen Bedingungen sich die beiden Freunde in der Schule kennenlernen und wie sie sich im Älterwerden verändern, einander entfremden und verlieren. Nach langer Zeit treffen sie sich wieder und einer der beiden, Azwei, beginnt in einer Art monologischem Selbstgespräch, seinem Freund zu erzählen.
Die Geschichte spielt sich in seiner Wohnung ab, im Berlin der Jahrhundertwende. Nachdem sich seine Frau schlafen gelegt hat, sitzt Azwei im ›Herrenzimmer‹ seiner Wohnung und beginnt zu sinnieren. Er hört in die städtische Nacht hinaus und verfällt in einen traumartig verschleierten Seelenzustand, währenddessen ihm eine Nachtigall erscheint. Nicht lange und die Nachtigall verwandelt sich in eine Amsel. Azwei wird noch in derselben Nacht seine Frau verlassen.
In der zweiten Geschichte, die seine Erfahrungen im ersten Weltkrieg thematisiert, ist es keine Amsel, aber es fliegt ebenso und lässt als Fliegerpfeil – so bezeichnete man spitze Eisenstangen, die von Flugzeugen abgeworfen wurden – Azwei die Erfahrung des nahen, möglichen oder sogar wahrscheinlichen Todes durchleben.
Die dritte Geschichte handelt von Azweis zwiespältigen Gefühlen zu seiner verstorbenen Mutter, die ihm hier, nachdem sie verstarb, ohne dass er sich verabschieden konnte, als Amsel an seinem Fenster erscheint.
So kurz sich diese Geschichten aufzählen lassen, so wenig drückt dies aus über die tiefgründige, virulent bildhafte und dabei exakt beschreibende und treffende Prosa Musils, mit der er anhand dieser autobiographischen Erfahrungen die psychologische Tiefe des menschlichen Empfindens und Handelns auslotet. Oder sollte man besser von transzendenter Tiefe oder einer weiteren Wirklichkeitsebene neben der sichtbaren und der psychischen Wirklichkeit sprechen, die er hier vor uns ausbreitet? In der Kürze des Textes erleben wir ausschnitthaft den Blick eines Menschen auf sich selbst und quasi durch sich hindurch auf etwas gerichtet, das über dem Momenthaften, Beschreibbaren, wie oben angedeutet im Transzendenten liegt. Es ist die Betrachtung der eigenen Seins- und Daseinszustände in der Entwicklung vom Kind zum Jetzt. Es ist der Blick auf die bedeutenden Lebensbrüche, die wie die Gipfel der höchsten Berge aus dem Nebel des Lebens herausragen und auf das Mysterium des Ich verweisen.
Ein weiterer Versuch: ›Die Amsel‹ ist ein literarisches Konzentrat des menschlichen Daseins, könnte man Wörter und Geschichten hineingießen, erstünde daraus die Beschreibung aller wesentlichen Bedingungen des menschlichen Individuums.
Autor/in: | Robert Musil (1880–1942) |
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Genre: | Moderne |
Verlag: | Jung und Jung, 2021 |
Erstveröffentlichung: | bei der Neuen Rundschau, 1928 |