Die Geschichte vom Esel der sprechen konnte
Michael Scharang
Der fünfjährige Moritz lebt mit seinen Eltern und der Großmutter in Karpfenberg, einer kleinen Stadt in der österreichischen Steiermark. Zu Beginn des Romans befindet er sich mit seiner Großmutter auf einem Bauernhof, auf dem diese für die Familie ein kleines Zubrot verdient. Es ist Anfang 1945 und durch die täglichen Fliegerangriffe der Alliierten auf das Stahlwerk von Karpfenberg werden die Gefahren des Krieges auch hier abseits der großen Ballungsräume spürbar. Kurz bevor die beiden nach Hause aufbrechen wollen, um noch vor Einbruch der Dunkelheit in das eineinhalb Stunden entfernte Zuhause zu gelangen, werden sie aufgehalten. Moritz hatte zuvor auf dem Bauernhof in einem Verschlag einen halbverhungerten, jungen Esel entdeckt und sich entschlossen, sich um diesen zu kümmern. Als er sich an den Esel wendet und ihm erzählt was er vor hat und dass er ihn zu sich nehmen will, da beginnt der Esel plötzlich mit ihm zu sprechen. Erst erschrickt er, aber der Esel erklärt ihm, dass ein junger Esel der von einem Kind gerettet wird immer mit diesem sprechen kann. Und da der Esel über seine Mutter und einige Krähenkuriere erfährt, dass ein Fliegerangriff droht, sagt er dem Jungen, dass dieser noch warten soll mit dem Nachhauseweg. Der Junge erzählt seiner Großmutter nichts von der Warnung des Esels. Sie bleiben aber dennoch auf dem Hof, denn Moritz gibt vor, den Esel nicht dazu bewegen zu können loszugehen. Kurz darauf beginnen die Fliegerangriffe und Bomben fallen genau dorthin wo die beiden unterwegs gewesen wären. Von da an ist der Esel ein Held und Moritz darf ihn bei sich behalten. So beginnt die Geschichte des Jungen Moritz Zaunschirm und seines sprechenden Esels, der zeitlebens ein treuer Begleiter und Ratgeber des Jungen sein wird. Zusammen erleben sie das Ende des Krieges, die schulische Karriere und die geistig und kulturell hochfahrende Entwicklung des Jungen.
Scharangs Text ist von einem kühlen und handlungsbezogenen Erzählton geprägt. Die Gefühle und die psychologische Tiefe der Protagonisten werden zurückhaltend von außen, adjektivisch beschreibend, eher mitgeteilt als erzählt. Die starke Vereinfachung der Sprache auf eselkurze Sätze und auf eine ebenso direkte wie gleichförmig repetitive Abfolge von Problemen und deren Lösung bilden die anfangs originelle, später aber lähmende Grundstruktur, den ersterbenden Rhythmus des Romans. Mit der Figur des Esels und weiteren tierischen Akteuren besitzt er einige Merkmale einer Fabel, wobei der Autor uns die Schlusspointe einer moralischen Belehrung schuldig bleibt. Und er bleibt uns diese Moral nicht nur schuldig, er entledigt sich jener im Roman sogar ganz grundsätzlich. So unzweifelhaft im Roman immer wieder die aufklärerische und sozialkritische Haltung des Autors und seiner Figuren deutlich wird, so wenig wird diese durch die Form des Erzählten untermauert. Die Entscheidungen, die im Leben der Hauptfigur getroffen werden, und die Erfahrungen, die er macht, wirken im Verlauf des Erzählten immer beliebiger, verlieren ihre Glaubwürdigkeit und wiederholen lediglich das Schema des erfolgreichen Geistes, der durch planvolle und harte Arbeit von einem geglückten Projekt zum nächsten schreitet und von einer Fügung zur nächsten geleitet wird. Selbst der Tod des Vaters und später der seines eigenen Sohnes wirken konstruiert. So bleibt im Nachhinein betrachtet nur eine einzige wirkliche und glaubhafte Situation, die sich im ersten Teil des Textes befindet: die Beziehung zur Gretel und sein vergeblicher Versuch, ihr als kleiner Junge auf der Geige vorzuspielen. Indem er sich von ihr abwendet, trifft Moritz hier einmal eine echte und unabhängige Entscheidung, die nicht konstruiert wirkt.
Einen wesentlichen Aspekt bei der Interpretation stellt das Konstrukt der ›möglichen Wirklichkeit‹ dar, das Scharang als Kernthema Robert Musils für sich ableitet. So handelt es sich bei der Geschichte von Moritzs Leben um einen möglichen Verlauf. Wenn die Konstruktion der Sprache und des Erzählten am Beginn des Textes die Idee einer ›möglichen Wirklichkeit‹ noch nachvollziehbar erscheinen lässt und zudem zu einer neugierigen Erwartung verleitet, verliert sich dies im Verlauf der Geschichte oder verkehrt sich sogar ins Gegenteil. In diesem Sinn hat sich beim Lesen irgendwann ein fatalistisches Gefühl gegenüber den Personen eingestellt, das es denkbar erscheinen ließ, der Esel und sein Moritz könnten im nächsten Moment einen Plan ausbrüten, der zum humanistisch geprägten Denken Scharangs diametral ausgerichtet sein könnte, gerade so als würden sie ein Eigenleben entwickeln und dem Meister der Ereignispirouetten entwischen und ihr eigener Meister werden. Die wirkliche Welt um die beiden herum repliziert eben genau dieses Gegenteil auf erdrückende Weise.
Was noch der Erwähnung Bedarf: Gerade in diesen Zeiten, in der humanistisches Denken, klarer Verstand, das Ringen um die Wahrheit und ein freier Geist mit einem oder keinem Schulterzucken ohne größere Gegenwehr ihre Bedeutung im politischen Diskurs einbüßen, weist der Autor auf Karl Kraus ‘Die dritte Walpurgisnacht’ hin, was allein das Lesen des Buches empfehlen lässt.
Autor/in: | Michael Scharang (*1941) |
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Genre: | Fabel, Entwicklungsroman |
Verlag: | Czernin Verlags GmbH, 2023 |