Die Tränen Des Propheten
Yavuz Ekinci
Die Welt der Menschen ist in Unordnung. Schreckensmeldungen, staatliche Repression, Terror, Ungerechtigkeit, Ausbeutung bedrücken den empfindsamen und zu heftigen Reaktionen neigenden Familienvater Mehdi. Versunken in einer Welt religiöser Literatur und Lyrik, schottet sich der Enddreissiger mehr und mehr von seiner Umwelt ab. Er brauche etwas Zeit für sich alleine, beschreibt er seiner Frau seinen Zustand, als diese sich mit ihrer Tochter aus dem Urlaub meldet, in den er selbst nicht mitgefahren ist. Kurz darauf erlebt er eine Erweckungserfahrung durch die Begegnung mit dem Erzengel Gabriel, nach der er sich als der Prophet der letzten Tage, als der Mahdi, auserkoren sieht. Nachdem seine Familie aus dem Urlaub zurückkehrt, findet seine Frau eine verstörende Situation vor: ein zerborstenes Aquarium mit einem toten Goldfisch, den ebenfalls toten Wellensittich seiner Tochter und den verwirrten Mehdi selbst. In der Folgezeit kann er kaum mehr schlafen und ist völlig überreizt, bis die Situation derart eskaliert, dass seine Frau mit seiner Tochter das Haus verlässt und nicht mehr zurückkehrt. Er selbst verlässt ebenfalls das Haus und beginnt damit, in der Erwartung einer weiteren Begegnung mit dem Erzengel, in der Stadt sein Prophetentum zu verkünden. Doch die Menschen verstehen keine Propheten mehr und haben nur Häme für ihn übrig.
Wahnsinn oder transzendente theologische Wirklichkeit? Religiöse Versponnenheit oder verzweifelte Gesellschaftskritik? Dieser Prophet ist ein Mensch, der die Augen nicht verschließt, dessen Schutz gegen die Eindrücke seiner Umwelt Risse bekommen hat und der über die Wirklichkeit der gesellschaftlichen Verhältnisse ins Stolpern gerät. Sein Ausweg ist die Fata Morgana einer Erlösungsprophetie, die ihm der Kanon theologischer Schriften der abrahamitischen Tradition eröffnet. So wird er zum Erlöser der letzten Tage, der wunderhalluzinierend durch die große Stadt treibt.
Aber was kann ein Prophet den Menschen heute noch erzählen und wurden Propheten in ihrer Zeit nicht häufig verfolgt und verkannt? Auch diese Fragen klingen an. Der Mehdi beantwortet sie für sich in einer naiven Phantasterei, in dem er sich beständig bei jeder seiner Windmühlen-Schlachten ausmalt, wie er später einmal in die Geschichte der Religionsschreibung eingehen wird, gleich seinen Vorgängern Mohammed, Jesus oder Moses. Der Mehdi findet am Ende keinen Weg zur Erlösung, abgesehen von einigen Fischen und Vögeln, die er befreit, und auch sein Gott vermeidet es Blitze zu senden, um seine verzweifelten Forderungen nach Gerechtigkeit und Wahrheit durchzusetzen.
Autor/in: | Yavuz Ekinci (*1979) |
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Genre: | Gegenwartsliteratur |
Verlag: | Antje Kunstmann, 2019 |
Übersetzung: | Aus dem Türkischen von Oliver Kontny |
Originaltitel: | »Peygamberin Endisesi«, bei Doğan Kitap, Istanbul, 2018 |