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Dritte Walpurgisnacht

Karl Kraus

Die Ernennung Hitlers zum Reichskanzler durch Reichspräsident Hindenburg am 30. Januar 1933 markiert den Beginn der nationalsozialistischen Diktatur in Deutschland. Der Österreicher Karl Kraus begegnet diesem Ereignis im Nachbarland zunächst mit Sprachlosigkeit. Seine publizistische Stimme, die Fackel, mit der er bis dahin seiner Sicht auf die künstlerische, politische und gesellschaftliche Lage satirisch Ausdruck verliehen hat, bleibt bis auf weiteres stumm. Während viele seiner Zeitgenossen auf die Machtübernahme der Nazis in Deutschland mit zuerst nur abwartender Sorge blicken, lässt sich Kraus in seiner wachen Wahrnehmung und seinem klarsichtigen Verständnis der Ereignisse nicht beirren. Er sammelt Fakten über die Vorgänge in Deutschland und beobachtet mit Skepsis die fragile politische Entwicklung in seiner Heimat, und er beginnt mit der Arbeit an ›Dritte Walpurgisnacht‹.
Der Anlass für ihn, dieses Essay zu schreiben und nicht eben in der Fackel kommentierend zu veröffentlichen, ist die im Wortsinn ›totale‹ Umwälzung der Gesellschaft in Deutschland, die ungehemmte Vernichtung aller hergebrachten Normen und Werte. Es verdammt ihn, den wortgewaltigen Satiriker, zum Schweigen, dass es kein wirksames Argumentieren, kein satirisches in Frage stellen, kein treffendes Anklagen geben kann, »vor dem Exzeß der geodynamischen Natur«, angesichts eines politischen Handelns, das der satirischen Übertreibung immer bereits eine noch ungeheuerlichere Tat voraus ist, das den staatlich sanktionierten Mord zum politischen Maß erhebt und gleichzeitig einen wahrheitsgemäßen Bericht darüber oder selbst die Annahme desselben als Anlass zu erneuter Verfolgung nimmt, unter dem Vorwand, gegen unwahre ›Greuelnachrichten‹ vorzugehen.

›Dritte Walpurgisnacht‹ beginnt mit einer Erklärung, warum Kraus schweigt. Im Weiteren führt er dann akribisch aus, wie er den Judenhass, die Umformung grundlegender gesellschaftlicher Werte durch eine bluttriefende Rassenideologie, die Brutalisierung der Institutionen, die Hysterisierung der Zivilgesellschaft, die Verlogenheit und Fanatisierung intellektueller Eliten (hier sei stellvertretend nur Gottfried Benn genannt), die geistige Verwahrlosung der Sprache (›Greuelpropaganda‹, ›Rassenschande‹, die hyperinflationäre Nutzung des Adjektivs ›deutsch‹ etc.) und die Unfähigkeit und Schwäche der politischen Widersacher (insbesondere in Österreich und hier im Zentrum die SPD) wahrnimmt. Die Fakten über die Gräuel der SA und SS, die rassistische Hasspropaganda und die staatlich organisierte Entrechtung und Verfolgung der jüdisch definierten Bevölkerung, die brutale Verfolgung und Ermordung der politischen Gegner und den fanatischen Chauvinismus, die Kraus in seinem Essay zusammenträgt, waren bereits zu diesem frühen Zeitpunkt bekannt und für jeden deutschen Bürger, aber auch für das Ausland zugänglich. So ist es einer der wenigen frühen zeitgenössischen Texte, der bereits die unmissverständlichen Umrisse zeichnet für eine Entwicklung, die später im Holocaust und der Eroberungs- und Vernichtungspolitik im Osten ihre grausame Vollendung findet.

Der Text sollte im Herbst 1933 in der Fackel veröffentlicht werden. Kurz vor der Druckfreigabe zieht Kraus den Text jedoch zurück und veröffentlicht in der Ausgabe 888 nur ein kurzes Gedicht, das einen Hinweis auf sein publizistisches Schweigen gibt; Er hat die Sorge, der Text könnte eine Racheaktion durch die Nationalsozialisten auslösen, weniger an ihm selbst als an denjenigen, die bereits als Opfer durch den Terror bedroht sind. Und im Gegensatz dazu würde der fast unübersetzbare Text im Ausland nicht die Aufmerksamkeit erregen, die notwendig wäre, um eine Wirkung gegen das Regime zu erzeugen. Im Juni 1934 wird er eine gekürzte Fassung veröffentlichen, mit nur etwa dem sechsten Teil des ursprünglichen Umfangs. Die vollständige Fassung wird erst posthum nach Beendigung des Zweiten Weltkriegs und der Niederschlagung der deutschen Terrorherrschaft veröffentlicht.

Für die Rezeption heute stellt ›Dritte Walpurgisnacht‹ eine Herausforderung dar, die lesend kaum zu bewältigen ist. Hier kann es interessant sein, über das Projekt ›Karl Kraus 1933‹ der Österreichischen Akademie der Wissenschaften einen vertiefenden Zugang zu erhalten. Insbesondere ein Personenregister und eine Übersicht und Erklärung der im Buch beschriebenen Ereignisse helfen dabei, einige Details besser zu verstehen bzw. sich dem richtigen Verständnis zu versichern: https://kraus1933.ace.oeaw.ac.at/ereignisse.html
Aber auch wenn sich nur ein zum Teil bruchstückhaftes Verständnis für die Details der beschriebenen Vorgänge, die vielfach versteckten Andeutungen, die Rückbezüge auf vergangene Fackeltexte oder die Bezüge zu aktuellen Ereignissen einstellt, ist der Text nicht minder lesenswert. Wie oben angedeutet, ist es eines der wenigen Beispiele für einen kritischen Text, der bereits zu Beginn der Diktatur geschrieben wurde. Neben den vorgenannten Schwierigkeiten bei der Rezeption bedient sich Kraus einer syntaktisch komplex verschachtelten Sprache, der man insbesondere im ersten Teil unterstellen möchte, dass sie sich um eine einfach verständliche Aussage herumwindet, so als wolle er gerade hier unterstreichen, dass er dabei ist, etwas zu erklären, das sich gegen eine Erklärung weitestgehend sträubt, und weniger noch in einer rationalen Welt, wie sie bis dahin weitgehend vorausgesetzt wird. Man spürt hier die Erschöpfung vor der Gewalt, vor der umfassenden Durchdringung, vor dem kulturellen und moralischen Bruch, vor der Fassungslosigkeit und dabei fast hilflosen Erstarrung des Auslands, vor der Irrationalität dieser totalitären Revolution. Im Folgenden wirkt der Tonfall ironisch gefärbt, aber dabei gebrochen und ungläubig vor dem, was er vorfindet. Er enthält eine verzweifelte Ironie, ohne jeden leichtfertig triumphalen Spott, ohne jede verächtliche Herablassung des geistig Überlegenen, ohne jeden Ausblick auf eine etwaige Überwindung auf den Lippen, einen Ton, der die Erkenntnis mitschwingen lässt, dass diese Flut menschlicher Verrohung keine zeitliche Dimension hat, die es dem Einzelnen erlauben würde auszuharren, zu überdauern. Lässt man sich ein darauf, wird man, wie bei kaum einem anderen Werk, einen Einblick in die damals faktisch allseits bekannte, aber von ihrem bereits auf das Ergebnis der totalen Unterwerfung und Vernichtung zielenden Charakter her ebenso verdrängte Wirklichkeit am Beginn der nationalsozialistischen Terrorherrschaft bekommen. So musste es eben doch bereits 1933 allen bewusst Denkenden vor Augen gestanden haben, was noch Jahrzehnte nach der Befreiung 1945 von vielen verleugnet und insgeheim geschönt wurde.

[Erstveröffentlichung: Teile des Textes waren in der Fackel 890-905 im Juli 1934 enthalten, der vollständige Text wurde im Kösel Verlag 1952 veröffentlicht]

Autor/in:Karl Kraus (1874–1936)
Genre:Historiographische Literatur, Politische Literatur
Verlag:Suhrkamp, 1989