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Eine Nebensache

Adania Shibli

Der erste Teil dieser Erzählung berichtet über die Ermordung einer Gruppe von Beduinen in der Negev-Wüste, unweit der israelisch-ägyptischen Grenze. Zugetragen hat sich das Verbrechen kurz nach dem ersten arabisch-israelischen Krieg, im August 1949. Eine israelische Miltäreinheit zur Grenzsicherung wird dort stationiert und durchstreift die Gegend. Dabei stoßen die Soldaten auf die Beduinen. Sie nehmen eine junge Frau aus der Gruppe gefangen, um sie wenig später im Militärlager gemeinschaftlich zu missbrauchen und anschließend zu ermorden.
Im zweiten Teil, etwa 50 Jahre später, wird eine junge Palästinenserin aus Ramallah durch einen investigativen Zeitungsartikel in einer israelischen Zeitung zufällig auf den Fall aufmerksam. Durch ein unwesentliches Detail fühlt sie sich mit den damaligen Ereignissen verbunden: die Tat ereignete sich auf den Tag genau 25 Jahre vor ihrer Geburt. Und so macht sie sich auf, unter falschem Namen, mit dem Pass einer israelischen Arbeitskollegin, von Ramallah im Westjordanland über Tel Aviv-Jaffa in die Negev-Wüste. Ihre Reise an den Ort des Verbrechens ist eine Suche nach der Person und den Blickwinkel des anonymen Beduinenmädchens.

Aus der Perspektive des Kommandeurs der Grenzsoldaten, wird ein mit vielen Details und akribisch beschriebenen Nebensächlichkeiten versehener Bericht der Vorfälle gegeben. Die übertriebene Genauigkeit der Beschreibung führt dabei zu einer Trivialisierung des Geschehens und deutet zugleich auf den Betrachtungsrahmen, in dem sich Täter und Opfer in Kriegen bewegen. So werden die Soldaten in ihrem Handeln durchaus als Person sichtbar, während die Opfer nicht nur physisch ausgelöscht werden, sondern zugleich als Person unsichtbar werden und nurmehr durch die Tat existieren.
Die Nachforschungen der jungen Palästinenserin im zweiten Teil stellen dazu den Gegenpol dar. Durch ihre Suche nach einer Lebensgeschichte hinter dem Opfer wird dieses personifiziert, über das reine Opfersein erhoben und erfährt die jedem Menschen zustehende Würde. Im Verlauf der Suche verstärkt sich aber die Einsicht in die Aussichtslosigkeit ihres Unterfangens und kulminiert am Ende zu einer Inkarnation des Opfers in der Suchenden.
Ein herausragender Text, in der Komposition der Geschichte, in Rhythmus und Tempo und ebenso in seinem sprachlichen Ausdruck, hier ausgehend von der Übersetzung Günther Orths.

[Nachtrag: Mai 2024] In der Folge des brutalen Überfalls und Massenmords der Terrorgruppe Hamas auf israelischem Gebiet am siebten Oktober 2023, gibt es eine Diskussion zu antiisraelischen oder sogar antisemitischen Tendenzen im Text. Die Zuspitzungen in dieser Diskussion erscheinen mir als die Folge eines zunehmenden Konformitätsdruckes, der im Umfeld jedes kriegerischen Konflikts zu beobachten ist und die kritische Diskussion vergiftet, auch wenn diese von leiseren und bedachteren Stimmen geführt wird, wie der Adania Shiblis. Dieser Roman wirft sicher auch einen kritischen Blick auf die Politik in Israel, aber gerade das zeichnet die israelische Gesellschaft vor allen anderen in der Region aus, dass eine kritische Diskussion möglich ist. Den Roman darauf zu reduzieren und wesentliche Aspekte, wie oben oder auch in anderen Buchbesprechungen ausgeführt, zu unterschlagen, wird dem Text sicher nicht gerecht.

Autor/in:Adania Shibli (*1974)
Genre:Gegenwartsliteratur
Verlag:Berenberg, 2022
Übersetzung:Aus dem Arabischen von Günther Orth
Originaltitel:»تفصيل ثانوي (Tafṣīl Ṯānawī)«, bei Al-Adab, Beirut, 2017