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»Endlösung« - Völkerverschiebung und der Mord an den europäischen Juden

Götz Aly

Die vorliegende Arbeit gilt als Standardwerk zur Holocaustforschung und untersucht die politische Entwicklung und im Besonderen die sich im zeitlichen Verlauf veränderndenden Rahmensetzungen, Positionen und konkreten Entscheidungen der beteiligten Handlungsträger, die zum Massenmord an den europäischen Juden führten. Dabei betrachtet Aly einen Zeitabschnitt vom Überfall auf Polen, am 1. September 1939, bis zur Wannseekonferenz, vom 20. Januar 1942. Die Fragestellung des Buches »… Wie wirkten sich die Schwierigkeiten, die die deutsche Kriegsführung, die Annexions-, Umsiedlungs- und Neuordnungspolitik hervorbrachten, auf die Pläne zur ›Lösung der Judenfrage‹ aus …« wird insbesondere über die Handlungs- und Entscheidungslogiken der unteren Verwaltungsebenen in den annektierten Gebieten Polens und des Generalgouvernements beleuchtet. Das simple Bild des ›Führerbefehls‹ und eines blinden, fanatischen Gehorsams wird in Frage gestellt und das fatale Zusammenspiel von ideologischem Fanatismus und moralischer Entgrenzung durch die politische Führung dagegen gehalten. Einer genauen Betrachtung wird die nationalsozialistische Bevölkerungspolitik unterzogen, die neben der Politik der ›Rassenhygiene‹ unter dem Schlagwort ›Heim-ins-Reich‹ die Ansiedlung der sogenannten ›Volksdeutschen‹ in die im Krieg annektierten Gebiete beinhaltet hat. Die Vertreibung, Ghettoisierung und schließlich Ermordung der jüdischen Bevölkerung Europas wird dabei zur strategischen Handlungsoption für die Umsetzung dieser Pläne.
Die eingeschobenen Kapitel mit chronologisch aufgereihten Zitaten, Entscheidungen und verschiedenen historischen Fakten, lassen das Bild der »kummulativen Radikalisierung« (Hans Mommsen), über die verschiedenen Stufen der Verfolgung, von Zwangsausweisung über Deportation und Ghettoisierung bis zur ›Evakuierung‹ respektive dem systematischen Massenmord und dem Betrieb der Vernichtungslager deutlich werden.

Einige Argumente und Thesen die dem Text entspringen zum Problem des moralischen Bruchs, der von einer großen Zahl von Mittätern begangen wurde:
Der nationalsozialistische Herrschaftsapparat als polykratische Machtstruktur (Hans Mommsen), bei der die politische Führung eher den Möglichkeitsraum radikal erweitert und legitimiert, als selbst als allmächtiges Regulativ alles zu bestimmen.

Modernes Management in den Verwaltungsstrukturen, mit Motiven der Selbstorganisation als effizienzsteigernde und legitimationsfördernde Komponente, in der jeder Ideen einbringen soll und damit zum aktiv Beteiligten mit eigenem Entscheidungs- und Verantortungspielraum wird.

Das System Heydrich, der definierten Fernziele, als Heilsversprechen, die den Nahzielen und damit der praktischen Umsetzung als Legitimation für deren moralisch immer weiter entgrenzten Try-and-Error-Charakter dienen.

Das Prinzip der institutionellen Geheimhaltung, bei der nirgends konkret von Ermordung gesprochen wird, sondern vielmehr von ›Aktion‹, ›Evakuierung‹, ›Absiedlung‹ etc. Alle, zumindest in den Verwaltungen, kannten die Bedeutung dieser Worte. So konnten sich die einzelnen Täter ihr in der Praxis moralisch entgrenztes Handeln, unter der Bedingung kulturell geprägter moralischer Grundwerte, als notwendigen Ausnahmefall selbstlegitimieren.

[Hier handelt es sich um die durchgesehene und aktualisierte Ausgabe im Fischer Verlag von 2017]

Autor/in:Götz Aly (*1947)
Genre:Historiographische Literatur
Verlag:Fischer, 1995