Geschichte eines Deutschen
Sebastian Haffner
Die Erinnerungen 1914–1933
Eine Kindheit im nationalistischen Rausch des Ersten Weltkriegs, eine Jugend in einer ungewollten Republik, die von politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Extremen geprägt ist und schließlich ein junger Erwachsener, der sich 1933 der totalitären NS-Diktatur und der Aufkündigung aller hergebrachten Werte und Normen gegenüber sieht. Das sind die Stationen einer Generation von Deutschen, die zu den Trägern der nationalsozialistischen Terrorherrschaft werden sollten. Sebastian Haffner, Jahrgang 1907, ist einer von Ihnen, wenngleich er nicht zu einem aktiven Unterstützer des Nationalsozialismus werden sollte, sondern schließlich in der Emigration 1938 dagegen opponiert. In dem im Buch beschriebenen Zeitraum von 1914 bis 1933 schildert er entlang seines eigenen Lebenslaufs die Voraussetzungen und Bedingungen, die in die NS-Diktatur mündeten. Er schreibt dabei aus der Perspektive eines jungen, bürgerlich, liberal konservativ geprägten Deutschen, eines ganz und gar durchschnittlichen und unpolitischen Menschen, der zwar die Ereignisse kritisch und am Ende auch mit Abscheu mitverfolgt, aber, wie er selber an einer Stelle schreibt, »keinen Augenblick in die Ereignisse eingegriffen hat«.
In einem komprimierten historischen Abriss führt Haffner im ersten Teil durch die Ereignisse vom ersten Weltkrieg und dem Ende des Kaiserreiches, über die revolutionären Anfänge der Weimarer Republik und die Wirren und politischen Machtverenkungen derselben bis zum Beginn der NS-Herrschaft 1933. Drei wesentliche Thesen ragen dabei aus dem Erzählstrom heraus: Der Erste Weltkrieg als prägende Zeit und die Kinderstube einer kommenden nationalsozialistischen Tätergeneration; Das deutsche Militär gefangen in seinem Obrigkeitsdenken und unfähig, unabhängige Entscheidungen zu treffen; Eine von Beginn an gescheiterte Republik, die an der Unfähigkeit zur Revolution, am Verrat der bürgerlichen SPD und dem Hass der Eliten gegen den republikanischen Geist krankt. Er verbindet diese historischen Marksteine mit seinen eigenen Erfahrungen und Gefühlen und erzeugt dabei ein sehr persönlich geprägtes Bild der Zeit, das wie in kaum einem anderen Text der Zeit die psychische Konstitution der deutschen Gesellschaft nachvollziehbar werden lässt.
Im Anschluss daran folgen das Jahr 1933 und der Absturz in die nationalsozialistische Terrorherrschaft. Haffner beschreibt hier als indirekter Beobachter, wie die persönlichen Rechte der Bevölkerung eingeschränkt, die jüdische Bevölkerung verfolgt und entrechtet und politische Gegner gefoltert und ermordet wurden. Einen wichtigen Aspekt seiner Darstellung nimmt die Verankerung der antisemitischen Vernichtungsideologie in der deutschen Gesellschaft ein. Haffners Arbeit legt einen besonderen Schwerpunkt auf die Perspektive der Bevölkerung, die er nachvollziehbar anhand seiner persönlichen Erfahrungen als wirkmächtigen Einflussfaktor politischer Prozesse darstellt. Ein eindringliches Beispiel dafür gibt er von sich selbst, der eine tiefe Abwehr gegenüber dem Nationalsozialismus empfand und keineswegs dem Gift des Antisemitismus erlegen war, als er bei der ersten Gelegenheit gegen seine Überzeugung handelte. So beschreibt er, wie er am Vorabend des ›Judenboykotts‹ am Kammergericht bei der einer Razzia der SA gegen Juden auf die Frage »Sind sie arisch?«, ohne sich darüber bewusst zu werden, instinktiv mit »Ja« antwortete. Die Beschämung lag im Reflex des Selbstschutzes, bei der kleinsten Prüfung versagt zu haben, währenddessen die als jüdisch erkannten Kollegen, Richter und Anwälte das Gericht verlassen mussten. Betrachtet man die 48 % der Wähler, die am 5. März noch gegen die NSDAP und ihre Verbündeten der DNVP stimmten, war es zuerst die Furcht vor den Folterkellern, den Verfolgungen und Morden, dem Konzentrationslager, davor, in irgendeiner Form Opfer zu werden, die diesen ein Mittun abzwingen konnte. Schnell aber wurde bei vielen dieser Zwang zur eigenen Gesinnung, die über der Beschämung der eigenen Schwäche, die persönliche Moral korumpiert zu haben, als Rechtfertigung herhalten musste. Hierin findet sich ein wichtiger Ausdruck des moralischen Versagens und eine Erklärung für die Leichtigkeit, wie diese tiefgreifende Umwälzung im persönlichen Wertesystem der Menschen Wurzeln schlagen konnte.
Der Text wurde 1939 geschrieben und Haffner befand sich da bereits im englischen Exil. Er wendet sich damit an den Lesenden außerhalb des deutschen Einflussbereichs mit dem Versuch, ein Verständnis zu schaffen für die Gefahr des nationalsozialistischen Terrorstaates, und sieht dann doch von einer Veröffentlichung ab. Der Text scheint ihm wohl zu schwach, nicht angemessen, die dramatische Drohung durch Deutschland auf dieser persönlichen Ebene vermitteln zu können. Veröffentlicht wird das Buch erst posthum und zeigt uns Nachgeborenen umso eindrucksvoller, wie deutlich bereits zu Beginn der Diktatur, oder, wenn man die Entstehung dieses Titels berücksichtigt, zu Beginn des Zweiten Weltkrieges, der Kern seiner Ideologie zu Tage tritt und wie grundlegend er den Vernichtungsgedanken darin verankert sieht. Um diesen Aspekt mit einem Beispiel zu verdeutlichen, hier ein kurzer Auszug. Er beschreibt dabei den Rassismus gegen die jüdisch definierte Bevölkerung als einen grundlegenden Bruch der Menschheitssolidarität, der im eigentlichen Kern nicht allein den Antisemitismus zum Ziel habe, sondern darüber hinaus gehe, um, wie er schreibt: »… die menschlichen Raubtierinstinkte, die sich sonst nur gegen die Tierwelt richten, auf Objekte innerhalb der eigenen Gattung zu lenken, und ein ganzes Volk wie ein Rudel Hunde auf Menchen scharf zu machen. Ist erstmal einmal die grundsätzlich immerwährende Mordbereitschaft gegen Mitmenschen geweckt und sogar zur Pflicht gemacht, so ist es eine Kleinigkeit, die Einzelobjekte zu wechseln. Schon heute [hier ist der Ausgangspunkt wohl 1939] zeigt sich ziemlich deutlich, dass man statt ›Juden‹ auch ›Tschechen‹, ›Polen‹ oder irgendetwas anderes setzen kann.«
Autor/in: | Sebastian Haffner (1907–1999) |
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Genre: | Autobiographie, Historiographische Literatur |
Verlag: | Deutsche Verlags-Anstalt, 2000 |