Nothing Personal
James Baldwin
›Nothing Personal‹ ist ein Essay der beiden Highschool-Freunde Richard Avedon und James Baldwin. In Bild und Text beschreiben sie den soziokulturellen Zustand der USA in den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts. Avedons inszenierende Fotografie und Baldwins assoziative Poetik erzeugen jede für sich eine eigene Perspektive auf die US-amerikanische Wirklichkeit. Zugleich ergänzen und vereinigen sie sich im Lesenden zu einem sezierenden und zum Teil verstörenden Blick auf den Zustand dieser Gesellschaft. Baldwins Schreiben ist keine naive Klage gegen Rassismus, Unterdrückung oder die Oberflächlichkeit der kapitalistischen Konsumgesellschaft, die leichtfertig nach einem Schuldigen sucht oder die glauben machen möchte, eine einfache Heilung bestünde im Zerschlagen politischer Positionen. Seine Darstellung einer von historischer Verklärung und ethischer Zerrüttung geprägten Gemeinschaft nimmt den einzelnen Menschen in die Mitte seiner Betrachtung. Eine seiner Überlegungen liegt darin, dem modernen Menschen die Fähigkeit abzusprechen, über die kindliche Entwicklungsphase hinauszukommen. Was bei Kindern der Offenheit einer neugierigen Experimentierlust entspricht, die sich in ihrer Radikalität ständig verändert, widerspricht und wieder korrigiert, erstarrt im Erwachsenen zu einer grausam unbeholfenen Verharrung in Stereotypen, im zur gesellschaftlichen Norm erhobenen Irrsinn. Beobachten lässt sich dies am Rassismus der Weißen US-amerikanischen Bevölkerung, ebenso wie am Chauvinismus breiter Bevölkerungsschichten oder wie aktuell am Atavismus trumpistischer Identitätspolitik. Blicken wir auf unsere heutige, konsumptiv entfesselte Kommunikation, stellen wir fest, wie einfach es geworden ist, sich hinter einer beliebigen Idee, einem fadenscheinigen Spleen, einer gesellschaftlich anerkannten Verschwörung in eine dieser hermetischen Blasen zu versenken. Es kostet keine Mühe, sich über Chats, Memes, Likes oder Video-Shorts einer Emotion hinzugeben, einer Bedeutung zu versichern, die in Wirklichkeit nur ein kurzlebiges Trugbild darstellt und das Individuum in seinem Wesen umso bedrängender ängstigt. Das Persönliche wird unentwegt und hemmungslos und dabei zumeist freiwillig ins Öffentliche gezerrt und damit seiner Unverletzlichkeit und Intimität beraubt. All dies stellt jene Auswüchse des verängstigten ICHs dar, der hilflosen Kinderseele im Erwachsenen, die Baldwin in ›Nothing Personal‹ bereits andeutet. Allein das echte Gefühl der Liebe und die Öffnung für unser inneres Wesen, dass wir tief in unserem Selbst verstecken, könnte im Einzelnen als Gegengift wirken.
Eröffnet wird der Band durch eine Serie von Fotografien, die im Standesamt von New York aufgenommen wurden. Küssende und herzende Paare, kurz vor oder nach ihrer Eheschließung. Die Fotografien sind in Schwarz-Weiß aufgenommen, die Personen ausgeschnitten auf einem weißen Hintergrund, wie zumeist in Avedons Portraits. Das konzentriert den Blick auf die Figuren, auf den Ausdruck der Gesichter, auf deren Erscheinung. Der Betrachtende wird eingeladen, die Personen, den Blick, die Haltung zu erkunden, hineinzublicken in den Menschen und durch ihn hindurch auf unsere Gesellschaft. Und dies wird gerade im Verlauf der weiteren Bildserien im Band spürbar. Den Hochzeitsfotos schließen sich Portraits von Personen des öffentlichen Lebens an, deren Blick, Mimik und Gesten in zum Teil überraschend unverstellter Weise ihre innere Haltung offenzulegen scheinen. In einer weiteren Sequenz sieht man bildfüllende Gesichtsporträts politischer Aktivisten, Politiker, Künstler und Wissenschaftler. Dem dritten Textteil folgt eine Serie von Fotografien aus einer Nervenheilanstalt. Die Personen sind Gefangene, aufbewahrt, ihrer Verzweiflung oder einfach sich selbst, ihrem inneren, von der Außenwelt abgeschlossenen Drama ausgesetzt, ohne Hoffnung auf Erlösung. Den Abschluss bilden analog zu Baldwins Thema der Liebe im vierten Teil drei Portraits von Familien, gefolgt von einem Gruppenportrait der Mitglieder des Studenten-Koordinationsausschusses für gewaltlose Aktion in Atlanta, Georgia, als Symbol für eine antirassistische, friedliche Gemeinschaft.
Baldwins Text beginnt mit der Beschreibung einer morgendlichen Zerstreuung vor dem Aufstehen, zu der er auf seinem Fernsehgerät durch die TV-Programme zapped. Die Bruchstücke der amerikanischen Mainstream-Film- und Konsumkultur, die ihm hier begegnen, collagiert er zu einem Gesellschaftsbild von betäubender Bedeutungsleere und hilfloser Kindlichkeit. Demgegenüber setzt er den Mythos der ersten europäischen Einwanderer von Plymouth, den Helden der Freiheit, die er aber sogleich enttarnt als eine »verzweifelte, gespaltene und raubgierige Horde«, bereit »ihre Vergangenheit zu vergessen« und umsomehr »bestimmt dazu, Geld zu machen«. Diese Geschichte der Vernichtung und Versklavung, der Unterdrückung von Besitzlosen durch eine zynische Oligarchie, spiegelt er in seiner sozialpsychologisch geschärften Wahrnehmung des Einzelnen. Dessen Selbst, das Selbst des US-amerikanischen Bürgers, bleibt »buchstäblich verdammt zu ewiger Jugend«, brüchig und unfrei.
Weiter führt er den Lesenden in die von rassistischer Willkür geprägte Gegenwart der USA. Baldwin verweist dabei auf die Identitätskrise der US-amerikanischen Bevölkerung, die von »einer romantisierten, aber bösartigen Vergangenheit geprägt, in einer verleugneten und entehrten Gegenwart lebt«. Immer wieder verlässt der Text die Ebene der Beschreibung äußerer Umstände und geht auf die Bedingungen ein, denen der Einzelne durch Geschichte und Gegenwart, aber vorallem durch sich selbst ausgesetzt ist. Er beschreibt die Selbstzweifel, die um vier Uhr morgens beginnen, die Stunde, in der wir uns nicht aus dem Weg gehen können, in der wir uns fragen, welchen Sinn wir im Leben haben und ob es lohnt, diesen Tag, der unser letzter sein kann, erneut zu bestehen, denn eines Tages müssen wir uns unwiderruflich dem Tod stellen. Er führt hier das Bild der heilenden Kraft der Liebe ein und konfrontiert uns dann sogleich wieder mit der Oberflächlichkeit oder sogar Hilflosigkeit des »zeitlosen amerikanischen Knaben«, mit der »verzweifelten Anbetung der Einfachheit und Jugend«.
Im vierten und letzten Teil stimmt Baldwin einen hoffnungsvolleren Ton an und schreibt über die unermessliche Kraft der Liebe, in der unsere Erlösung liegt. Baldwin endet mit dem lyrisch vorgetragenen Hinweis, dass nur die Liebe zueinander uns am Leben halten kann.
[Die englische Ausgabe, auf der die Besprechung oben beruht, beinhaltet keine Bilder - Deutsche Ausgabe mit Bild und Text im Taschen Verlag von 2017, Übersetzung Harald Hellmann]
Autor/in: | James Baldwin (1924–1987) |
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Genre: | Gegenwartsliteratur, Politische Literatur |
Verlag: | Beacon Press, 2021 |
Erstveröffentlichung: | bei Atheneum, New York, 1964 |