Täter - Wie aus ganz normalen Menschen Massenmörder werden
Harald Welzer
Wie es im Titel der Untersuchung heißt, wird von Welzer der Versuch unternommen zu erklären, wie aus psychisch gesunden und gesellschaftlich integrierten Menschen Massenmörder werden. Der Schwerpunkt seiner Untersuchung liegt dabei auf Prozessunterlagen aus den 1960er Jahren mit den Aussagen von Mitgliedern eines Polizeibatallions, die im Rückraum des deutschen Vernichtungskrieges gegen die Sowjetunion an Massenerschießungen beteiligt waren und einen Teilaspekt des Holocaust ausmachen.
Die Untersuchung beginnt mit einer Einordnung der soziologischen und psychosozialen Voraussetzungen, die für die Umsetzung der deutschen Vernichtungspolitik im dritten Reich grundlegend waren. Einige seiner Erklärungsansätze – hier nur schlagwortartig skizziert – beschreiben die Herausbildung einer »partikular nationalsozialistischen Moral« innerhalb einer rassentheoretisch definierten Gesellschaft, die Entwicklung einer »Tötungsmoral«, die innerhalb der genozidalen Ideologie den Täter an seiner ›schweren Aufgabe‹ leiden lässt, die Trennung von Rolle und Person der Täter, die es ihnen erlaubt ihr Handeln von ihrem persönlichen Empfinden zu unterscheiden und die »Unspezifität« und den »Auslegungsspielraum« bei der Erteilung von Befehlen zum Massenmord.
Daraufhin beleuchtet er die Bedingungen in Deutschland ab 1933 und die Entstehung der bereits erwähnten nationalsozialistischen Moral. Mit erschreckend nachvollziehbaren Beispielen, unter anderem aus einem Erfahrungsbericht Sebastian Haffners, wird aufgezeigt, wie sich bis in die Mitte der Gesellschaft hinein der vorhandene Werterahmen verschieben konnte, was in der Folge den vollständigen Ausschluss von Teilen der Gesellschaft bedingte, die unter rassistischen Gesichtspunkten als abstammungsbezogen jüdisch oder ziganisch bzw. verwertungsbezogen behindert oder asozial definiert wurden. Im Buch wird dabei auch von der Aufteilung in eine »Wir-Gruppe« und in eine »Sie-Gruppe« gesprochen.
Im Hauptteil steht die Praxis der Massenvernichtung durch das Polizeibattaillon 45 im Mittelpunkt, das unter anderem im Rückraum des Vernichtungsfeldzugs gegen die Sowjetunion 1941 agierte. Dabei werden die Selbstreflektion der Täter und deren Entwicklung von der ersten Mordaktion bis hin zu regelmäßig durchorganisierten Massenmorden einer genauen, der Grausamkeit der handelnden Personen geschuldet, nur schwer erträglichen Betrachtung unterzogen. In diesem Zusammenhang wird unter anderem auch auf Milgrams psychologisches Experiment zur Autoritätshörigkeit verwiesen, wobei gleichzeitig auf den Umstand hingewiesen wird, dass die Beteiligten von Mordaktionen im dritten Reich keineswegs einem Befehlsnotstand unterlagen, da ihnen, wenn es nicht gar freigestellt war, keine ernsten Konsequenzen bei einer Verweigerung drohten. In diesem Teil wird insbesondere auf die psychosozialen und soziologischen Umstände eingegangen, die den Rahmen für die Täter und ihr Handeln bildeten.
Am Ende dieses Teils weist der Autor auf die psychologische Folgenlosigkeit der extremen Grausamkeit und Brutalität des massenhaften Mordens an Männern, Frauen und Kindern für die Täter in der Nachkriegszeit hin. Diesen beängstigenden Mangel an Empathie und Selbstkritik, der aus den Täteraussagen in den Prozessen 20 bis 30 Jahre nach der Befreiung zutage tritt, fast Welzer wie folgt zusammen: »… das hervorstechendste und deprimierendste gemeinsame Merkmal der Täteraussagen ist, dass eine Zurechnung persönlicher Schuld nirgends vorkommt«. Dabei gilt es überdies zu bedenken, dass die allermeisten Täter entweder gar nicht angeklagt oder die im Verhältnis zur Gesamtzahl an Tätern wenigen Angeklagten freigesprochen oder zu geringen Strafen verurteilt wurden.
Ein weiterer kurzer Abschnitt der Arbeit beschäftigt sich mit genozidalen Ereignissen und Massentötungen in verschiedenen Ländern, wie Vietnam, Kambodscha, Ruanda und Jugoslawien. Hier werden sehr verkürzt die Unterschiede und Analogien der Rahmenbedingungen herausgearbeitet.
Den Abschluss der Arbeit bildet das Kapitel »Alles ist möglich«. Mit diesem programmatischen Titel stellt Welzer die Brüchigkeit von universellen Wertvorstellungen in modernen Gesellschaften heraus. »Mir scheint, man kann das alles nur dann verstehen, wenn man sich klarmacht, dass in einem sozialen Gefüge lediglich eine einzige Koordinate verschoben werden muss, um das Ganze zu verändern … Diese Koordinate heisst soziale Zugehörigkeit.« Und mit einem Verweis auf Raul Hilberg: »… dass das Schicksal der europäischen Juden in dem Augenblick besiegelt war, als ein Beamter 1933 eine Definition dessen, wer ›arisch‹ war und wer nicht, in einer Verordnung niederlegte«. Damit nimmt Welzer Bezug darauf, dass die Täter für ihr Handeln einen Werterahmen besaßen, der es zudem ihnen selbst und auch der Tätergesellschaft ermöglichte, im Nachhinein ihr Handeln vor sich selbst zu rechtfertigen. An dieser Stelle werden die Überlegungen aus den Kapiteln davor noch einmal zusammengeführt und dabei akzentuiert.
Am Schluß betont Welzer den identitätsstiftenden Charakter der nationalsozialistischen Wir-Gesellschaft, die einerseits von der Ausgrenzung und später der Vernichtung eines Teils der Gesellschaft materiell profitiert, aber auch in seinem sozialen Gefüge die Dynamik »einer Kultur der emotionalen Übereinstimmung« erfährt und das Gefühl vermittelt »man lebe in einer großen Zeit, vor der alles Hergebrachte emotional Schnee von gestern war«. Einen Teil der enormen Dynamik dieser gesellschaftlichen Entwicklung vermutet der Autor in dem Umstand, »dass man vieles von den Zumutungen der Individualität aufgeben konnte zugunsten des neuen Aufgehobenseins in der Volksgemeinschaft«. Letzteres ist ein Verweis auf den aus seiner Sicht naiven Glauben, dass die Entscheidungsfreiheit und Autonomie des Individuums, den die Aufklärung den westlich geprägten Gesellschaften gebracht habe, nicht auch eine Beschwernis mit sich bringen könne, nämlich jene Last der Eigenverantwortung und des Entscheidungsdrucks. Und hier endet die Untersuchung mit der offenen Frage, wie man in einer Gesellschaft »jenes lebenspraktische Glück« der »Autonomie« den Menschen erfahrbar macht, sodass sie davor geschützt sind, »zu Vollstreckern des Unglücks der anderen zu werden.«
Ergänzung
Einige Überlegungen aus dem Text, die oben zum Teil bereits angedeutet wurden, hier nochmal kurz angerissen:
Die Rechtfertigung einer unmoralischen Tat durch die Heranziehung höherer Ziele, denen man die eigene moralische Integrität unterwirft, um damit vor sich selbst umso moralischer, als ›guter‹ Mensch bestehen zu können - (siehe Zitate Himmler, Höss, Stangl).
Die Verschiebung des normativen Rahmens moralischer Handlungen: Wenn das Töten einer bestimmten Gruppe von Menschen, die zuerst als nicht mehr zugehörig zur als Menschen werten Gruppe erklärt wird, als die geforderte Norm bestimmt wird.
Welzer erkennt die Ursache für das Fehlen einer Selbstwahrnehmung, moralisch verwerfliche Taten begangen zu haben, inbesondere in der Konstruktion einer »Tötungsmoral« der Täter, die »sowohl persönliche Skrupel als auch das Leiden an der schweren Aufgabe des Tötens« in die genozidale Kultur des Nationalsozialismus zu integrieren suchte.
Ein weiterer zentraler Aspekt, der einen Baustein zum Verständnis für das Verhalten und insbesondere für die Selbsteinschätzung der Täter nach dem Krieg liefert, besteht in der Überlegung einer Rollendistanz von Menschen zu ihrem Tun. Damit ist gemeint, dass die Handlung selbst, im vorliegenden Fall das Töten, von ihrem Selbst getrennt wird und in die Rolle übergeht, in der sich die Täter jeweils befanden. Allerdings nicht als psychopathologischer Vorgang, sondern vielmehr als Akt der professionellen Distanz. Dabei gilt die Voraussetzung, dass die Rolle als Teil einer als notwendig betrachteten Aufgabe im Rahmen der partikularen nationalsozialistischen Moral akzeptiert wurde.
Ein Merkmal der Organisation der Vernichtungspolitik das ebenfalls bedeutsam ist und Erwähnung findet, und dabei eher im Gegensatz zum Verständnis eines totalitären Machtapparats steht, sind die zumeist von großer »Unspezifität und Auslegungsspielraum« geprägten Befehle an die Einsatzgruppen und Sonderkommandos. Der besonders ausgeprägte Organisationsgrad und die hohe Effizienz des Vernichtungsapparats wird unter anderem über die darin liegende Gestaltungsfreiheit erklärt. Siehe dazu auch Götz Aly, ›Endlösung‹.
Autor/in: | Harald Welzer (*1958) |
---|---|
Genre: | Historiographische Literatur, Soziologische Literatur |
Verlag: | S. Fischer Verlag, 2005 |