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Tram 83

Fiston Mwanza Mujila

Am Nordbahnhof in einer fiktiven Stadt, Stadtland genannt, in einer düsteren von Zerstörung, Kriminalität, Verwahrlosung, Alkoholismus, Prostitution, Despotismus und jeder nur erdenklichen Art von Ausbeutung geprägten Umgebung - Aufzählungen sind ein stilistisches Merkmal des Textes -, treffen sich die zwei sehr unterschiedlichen Hauptpersonen des Romans nach zehn Jahren wieder: Requiem, in Stadtland ein berüchtigter Krimineller mit düsterer Vergangenheit und Lucien, ein Schriftsteller, der Zensur und Verfolgung im Hinterland, durch die Flucht nach Stadtland zu entgehen sucht. Der erste Weg der beiden nach ihrem Wiedersehen führt sie ins Tram 83, Nachtclub und Stammlokal von Requiem. Lucien wohnt in der folgenden Zeit bei seinem Freund, lernt die Regeln von Stadtland schmerzlich am eigenen Leib kennen, bleibt aber seinen, in dieser Umgebung zur fast tödlichen Naivität degradierten, Grundsätzen treu, während Requiem der scheinbar unentrinnbaren und festgefügten Wirklichkeit ihren moralischen Tribut zollt.

Das Tram 83 ist der zentrale Ort der Handlung des Romans. In dieser Menagerie treffen sich die Protagonisten der postkolonialen, staatspolitisch gescheiterten Gesellschaft. Postkolonial ist hier allerdings mehr als zeitliche, denn als politisch historische Einordnung zu verstehen. Darauf verweist im Roman die Bezeichnung der sogenannten »gewinnorientierten Touristen«. Gemeint sind hier die Weißen Profiteure von Rohstoffgeschäften u.Ä., die in einer Art Remote-Kolonialismus 2.0 das koloniale Geschäft mit anderen Mitteln und unter einem anderen Etikett, Kapitalismus (unter Freunden), fortführen.
Der Rahmen, in dem sich die handelnden Personen bewegen, wird durch keinerlei politisch, gesellschaftlich oder gar moralisch begründeten Willen begrenzt oder beschrieben. Vielmehr sind es grundlegende Bedürfnisse, Triebe, Ängste, Zwänge, die als Beweggründe für das Handeln gelten. Kriminelle, Profiteure, Despoten, studentisches Bildungsbürgertum, verrohtes Proletariat, verarmtes Proletariat ohne Arbeit oder Prostituierte mit Arbeit, bilden die Gesellschaft von Stadtland, im hobbesschen Charakter, bei dem ‘der Mensch jedes Menschen Feind ist’.

Der Text ist aus der Perspektive einer patriachalen Gesellschaft geschrieben, in der die Männer Bedürfnisse besitzen, die durch das weibliche Geschlecht wie selbstverständlich befriedigt werden. Die Frauen im Roman, die als einzelne Personen mit individuellen Haltungen und Bedürfnissen kaum existieren, abgesehen von der Diva der Eisenbahnen und Emilienne, werden dem patriachalen Denkmuster gemäß in einer Art Umkehrung der Verhältnisse zur Ursache ihrer eigenen Ausbeutung, indem ihnen unter anderem das Bild der lustempfindenden Verführerin eingeschrieben wird. Die Ausschließlichkeit in der Sprache und die endlose Wiederholung der Unterwerfung unter die männlichen Bedürfnisse, und dabei im Besonderen die Heraushebung der jungen Mädchen, im Roman als ‘Küken’ bezeichnet, sind schwer zu ertragen und lassen den Text als bittere Abrechnung mit einer Welt ohne Hoffnung erscheinen.
Dem allen gegenüber steht der moralisch argumentierende und handelnde Lucien, der den Verlockungen und Zwängen widersteht, alles erduldet und verzweifelt als Intellektueller versucht in dieser tollwütig gewordenen Welt zu bestehen.
Die extrem überzeichneten Charaktere sind Ausdruck einer von Zynismus und Verzweiflung geprägten Kritik der Verhältnisse. Immer wieder finden sich Andeutungen auf die Naivität, Vereinfachung und Scheinheiligkeit, mit der aus europäisch kapitalistischer Sicht die Verhältnisse in den afrikanischen Ländern nach der kolonialen Katastrophe bewertet werden. Dieser Text wird mit Sicherheit aus den unterschiedlichen Perspektiven und Erfahrungen bisweilen gegensätzlich, aber zumindest sehr differenziert rezipiert.

Der Sprachstil folgt dem Inhalt, ist selbst bruchstückhaft, verkeilt die Teile mehr ineinander, als sie zu verknüpfen und versetzt dem Text sowohl inhaltlich wie strukturell fast permanent kräftige Hiebe. Endlose Aufzählungen, zersplitterte Dialoge, unerwartete Einschübe mit Beschreibungen unwirtlicher Szenerien, surrealistisch verzerrte Wimmelbilder, durch den gesamten Text gezogene Wiederholungen bilden unter anderem die sprachlichen Mittel des Autors und erzeugen einen von Getriebenheit und Unruhe geprägten Erzählfluss.

Autor/in:Fiston Mwanza Mujila (*1981)
Genre:Gegenwartsliteratur, Absurder Realismus
Verlag:Paul Zsolnay (Hanser), 2016
Übersetzung:Aus dem Französischen von Katharina Meyer und Lena Müller
Originaltitel:»Tram 83«, bei Éditions Métaillié, 2014