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Trauer Um Deutschland

Argyris Sfountouris

Argyris Sfountouris ist ein Überlebender des Massakers von Distomo, vom zehnten Juni 1944, bei dem fast alle 218 Einwohner des griechischen Dorfes die dort verblieben waren, darunter Alte, Kranke, Schwangere, Kinder und Säuglinge, mit unbeschreiblicher Grausamkeit von den deutschen Besatzern ermordet wurden. Fünfzig Jahre später, aus Anlass der Friedenstagung von Delphi im Jahr 1994, wird Sfountouris durch die deutsche Auslandsvertretung in Griechenland darauf hingewiesen, dass es sich um »Vergeltungsmaßnahmen« gegen sein Dorf gehandelt habe, die im Rahmen der Kriegsführung als Reaktion auf Partisanenangriffe erfolgt wären und deshalb nicht als NS-Tat anzusehen seien. Derlei würde nicht unter die Entschädigungen für NS-Taten fallen, sondern vielmehr unter den Themenkreis Reparationen, die wiederum nicht mehr geleistet würden. Diese Reaktion des deutschen Staates auf eine Entschädigungsanfrage für die Opfer von Distomo, die keinerlei Regung des Bedauerns, des Verständnisses oder Mitleids enthält, steht am Beginn des Buches und wird zum Ausgangspunkt einer Darstellung der deutschen Nachkriegspolitik in Bezug auf den Umgang mit Tätern und Opfern von Distomo und der deutschen Besatzung in Griechenland.
Der Autor geht bei seinen Ausführungen von einem aufklärerischen Standpunkt aus, der Versöhnung und die Möglichkeit aus der Vergangenheit zu lernen im Erinnern sieht. Nur dadurch ist es möglich, einer Wiederkehr entgegenzutreten. Aber auch das Erinnern muss glaubwürdig und ehrlich gelebt werden und darf keinen kleinlichen, wirtschaftlichen oder gar nationalistisch geprägten Interessen unterworfen sein, wie es die deutsche Nachkriegspolitik im Umgang mit den Opfern der nationalsozialistischen Besatzungspolitik in weiten Teilen war. Der Autor beschreibt diese verdrängte Seite der deutschen Nachkriegsgeschichte, mit eindeutig vorgebrachten Beweisen und einer genauen und an historischen Fakten orientierten Argumentation. Einige Texte enthalten darüber hinaus eine Betrachtung der Voraussetzungen unter denen Begriffe wie Vergangenheitsbewältigung oder Versöhnung ihre Floskelhaftigkeit verlieren und ein gemeinsames Verstehen, Glaubwürdigkeit und Vertrauen entstehen kann.

Neben den Abgründen dieser schrecklichen Tat und den verstörenden Aspekten deutscher ›Vergangenheitsbewältigung‹ finden auch diejenigen eine Erwähnung, die sich als menschlich erwiesen oder sich dem Opportunismus und der Verdrängung durch Gesten oder Worte entgegengestellt haben. Dazu gehören die deutschen Deserteure, die zu den griechischen Partisanen übergelaufen sind und auf deren Seite gegen die Nazis gekämpft haben, die unbekannten Soldaten, die den Autor und wenige andere am Tag des Massakers gerettet haben, in dem sie dem Kind bedeutet haben, sich zu verstecken. Und der Autor weist ebenso hin auf die bedeutsame Brandtsche Geste beim Besuch der Gedenkstätte für den Warschauer Aufstand 1970, den Weizsäckerbesuch 1987 in Griechenland und die bahnbrechende aber dennoch weitgehend folgenlose Rede des Bundespräsidenten Gauss auf der Gedenveranstaltung zum Massaker von Lyngiades 2014, bei der er in beispielloser Klarheit seine Scham als Nachgeborener ausdrückt und um Verzeihung bittet. Die Rede von Gauss ist im Buch abgedruckt und lässt erahnen was jahrzehntelang versäumt wurde.

Am Ende des Bandes sieht man das Bild einer Veranstaltung aus dem Jahr 2005 in der Humboldt-Universität Berlin, bei dem auf einer Banderole auf dem Podium zu lesen ist, worin eine Grundbedingung und zugleich die Inkonsequenz der deutschen Vergangenheitsbewältigung im Zusammenhang mit der Okkupationspolitik Nazideutschlands liegt: »NS-Opfer entschädigen - NS-Täter bestrafen«.

Im Geleitwort weist der Herausgeber, Gerhard Oberlin, noch auf eine Besonderheit dieser Sammlung von Reden und Aufsätzen hin. So finden sich darin immer wieder »insistierende Wiederholungen« die im Buch bewusst belassen wurden, denn, wie es dort heisst, »nur so spüren wir auch die verzweifelte Ohnmacht des Wortes, welches das Unsägliche nicht sagen kann«.

Autor/in:Argyris Sfountouris (*1940)
Genre:Historiographische Literatur, Autobiographie, Politische Literatur
Verlag:Königshausen & Neumann, 2015