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Und die Ratte lacht

Nava Semel

Eine zwölfjährige Schülerin möchte für den Geschichtsunterricht die Lebensgeschichte ihrer Großmutter als Überlebende des Holocausts aufschreiben. Darauf hat sie sich mit ihrer Lehrerin vorbereitet und sitzt nun mit vielen Fragen und einem Notizblock in der Wohnung ihrer Großmutter in Tel Aviv. Ihre Geschichte hat die Großmutter noch mit niemandem geteilt, selbst mit ihrer Tochter nicht. Und nur nach langem Bitten hat sie sich darauf eingelassen, ihrer Enkelin davon zu berichten. Die alte Frau weiß nicht, wie sie es ihrer Enkelin erzählen soll, was sie ihrer Tochter nicht und niemandem sonst erzählen wollte, um diese und sich selbst vor der Erinnerung des Schreckens zu bewahren. Ebenso hat sie Befürchtungen, was aus dem einmal Erzählten werden würde, welche Wahrheit und welches Verständnis davon übrig bliebe, wenn ihre Geschichte von anderen weiter erzählt werden würde, wie sich ihre Geschichte dadurch verändern würde.
Und dann beginnt sie zu erzählen. Sie verschlüsselt die Geschichte in einer Legende, von einer Ratte, die Gott auf die Probe stellt und im Angesicht dessen unvollkommener Schöpfung diesem die Gabe des Lachens abverlangt. Und sie beschreibt das Unbegreifliche, kaum beschreibbar Grausame, das ihr als Fünfjähriger, als jüdischem Kind, in einem Versteck durch die Hand ihrer vorgeblichen Retter in einem dunklen Erdloch widerfahren ist. Sie kann es nur bruchstückhaft wiedergeben und als ihre Enkelin sie so erzählen hört, denkt sie, dass die Großmutter sich nicht erinnern möchte oder sich einfach falsch erinnert, ihren vermeintlichen Rettern sogar unrecht tut durch ihr Vergessen.
Ihre Eltern hatten sie 1943 gegen Bezahlung bei einer Bauernfamilie verstecken wollen, um sie vor der Ermordung durch die Nationalsozialisten zu bewahren. Sie hatten etwas getan, was das Kind nicht verstehen konnte, sie allein gelassen, ihr den Rücken zugekehrt, hatten nicht wissen können, dass das Versteck bei einer Bauernfamilie zu einer Falle werden könnte und auch wurde. Nach einem Jahr der Tortur und des Mißbrauchs, wird sie durch den Dorfpfarrer, Stasch genannt, vor den Bauersleuten und ihrem pädophilen Sohn gerettet und wiederum für ein Jahr bis zur Befreiung durch die rote Armee versteckt.

Der Text verwebt kunstvoll und auf experimentelle Weise unterschiedliche Zeitebenen, von der erzählenden Großmutter, die der Quell dieser Geschichte ist, über die Enkelin, die als Nachgeborene einen Zugang dazu sucht, bis zu einer Anthropologin aus dem Jahr 2099, die forschend einen Bezug herzustellen versucht.
Zwei Überlegungen haben sich mir beim Lesen besonders eingeprägt: Erstens, der Text ist der Versuch einer Erfahrbarmachung, oder besser einer Eingrenzung individueller und kollektiver Leidens- und Vernichtungserfahrung unter der Bedingung, dass uns Lesenden der Erfahrungshorizont für das Erzählte fehlt. Zweitens, die Überlegung, die bereits oben durch die Großmutter angesprochen wurde, dass es zu einer Verzerrung der Wirklichkeit durch die Weitergabe der Geschichte selbst kommt. Eine Veränderung der historischen und individuell erfahrenen Wirklichkeit, durch den Filter der Zeit, durch das Weglassen oder Hinzufügen, Vergessen oder Unterschlagen, das Umdeuten oder Missverstehen von Details und Zusammenhängen.

Autor/in:Nava Semel (1954–2017)
Genre:Gegenwartsliteratur, Historische Literatur, Science Fiction
Verlag:Persona Verlag, 2006
Übersetzung:Aus dem Hebräischen von Mirjam Pressler