Wie Das Blatt Sich Wendet
Mo Yan
Der Auftrag oder besser die Bitte, die der Autor im Zuge einer Preisverleihung in Italien erhielt, lautete, einen Essay über »die großen Veränderungen des chinesischen Kommunismus in den letzten dreißig Jahren« zu schreiben. Yan lehnte die Anfrage des indischen Verlegers Naveen Kishore zunächst ab. Als ihm aber völlig freigestellt wurde, zu schreiben, was und wie er es wollte, kam er nicht umhin, doch zuzusagen. Doch gleich nachdem er begonnen hatte, wurde ihm bewusst, dass das Thema kaum die versprochene Freiheit zuließ. Und genau hierin liegt ein Kipppunkt für das Verständnis des Textes, und der Lesende hat nun zu entscheiden, ob der Autor allzu sparsam war mit seiner historischen Redlichkeit, wo er schlau die Zeilenzwischenräume ausgenutzt und wo er gar die gesellschaftspolitischen Wunden offengelegt hat. Es ist nicht leicht zu entscheiden, umso mehr, wenn man selbst in einer Gesellschaft aufwuchs, die weitestgehend ohne staatlich sanktionierte Denkverbote auskommt und draußen vor der eigenen Türe keiner wartet, wenn man eine kritische Meinung äußert. Die beiden chinesischen Dissidenten und politisch Verfolgten, der Schriftsteller Liao Yiwu und der Großkünstler Ai Weiwei, haben sich entschieden und dem ›Staatsdichter‹ politischen Opportunismus attestiert. Diese Einordnung ist als Ausgangspunkt zum Verständnis des Textes hilfreich, gerade für den nichtchinesischen Leser. Dem unbenommen lohnt es sich, den Erzählungen Mo Yans durch diese kurze Selbstbiographie hindurch zu folgen und die Entwicklung von der totalitär idealistischen Zeit Mao Zedongs und der sogenannten Viererbande hin zum rational totalitären China heute aus der Innenansicht, durch die Wahrnehmung eines sicherlich angepassten, aber dennoch kritisch denkenden Intellektuellen, zu betrachten.
Die Erzählung beschreibt in kurzen Anekdoten Mo Yans Lebensweg, von seinem Rauswurf aus der Grundschule 1969, noch während der Kulturrevolution, bis in die Zeit kurz vor der Veröffentlichung dieses Textes 2008. Er erzählt von einer ersten Anstellung als Aushilfskraft in einer Baumwollmanufaktur 1973, einige Zeit nach dem Schulrauswurf, seiner Aufnahme ins Militär 1976, den ersten literarischen Versuchen 1978 und seinem ersten Erfolg mit einer literarischen Veröffentlichung 1981. Währenddessen steigt er im Militär zum Rekrutenausbilder auf und 1983 wird er Offizier. Ein Jahr darauf kann er sich für ein Literaturstudium an der Universität immatrikulieren und schafft mit »der kristallne Rettich« und »das rote Kornfeld« den Durchbruch. 1988 folgt ein Masterstudiengang im Fach Literatur in Peking bis etwa ins Jahr 1992. In diese Zeit fallen auch die Studentenunruhen in China und deren brutale Niederschlagung, insbesondere in Peking, wo Yan studierte. Beispielhaft für die politische Situation in China, die freie Meinungsäußerung und das Sprechverbot über die Geschehnisse während der Unruhen mögen die wenigen Sätze stehen, die der Autor dafür findet: »…es dauerte nicht lange und die Studentenunruhen begannen. Die Lage spitzte sich zu. Niemand hatte den Kopf mehr frei für den Unterricht. Ich habe immer schon zu wenig Durchsetzungsvermögen besessen. Das ist meine Standardausrede, damit ich mir nicht den Kopf zerbrechen muss. Ich ließ Englisch also sein…«
Mit einem Sprung in die Zeit kurz bevor der Text veröffentlicht wurde und einigen Erinnerungen an seinen alten Schulfreund He und seine Klassenkameradin Liu Wenli, in denen er auf die Korruption in China abhebt, beschließt er diese plauderhaft anekdotisch vorgetragene Selbstbiographie.
Die Zeit der Kulturrevolution, während der Yan die Schule abbrechen musste, wird von ihm durchaus kritisch beschrieben. Die Zeit unter Deng Xiaoping im Anschluss daran enthält allerdings keine offen vorgetragene Kritik mehr. Lediglich zwischen den Zeilen lässt sich eine nonkonformistische Haltung erahnen. Am deutlichsten liest man dies in Bezug auf die Korruption He Zhiwus, seines Freundes aus Schultagen, des Schulabbrechers und Provokateurs damals und des durch seinen Reichtum vermeintlich unangreifbaren Geschäftemachers heute.
Zum Weiterlesen: Christa Kokotowski: »Identitätssuche, Heimatroman oder literarische Sozialkritik? Zwei chinesische Schriftsteller und ihre Darstellung des ländlichen Chinas: Jia Pingwa: 浮躁/›Fuzao‹/ ›Turbulenzen‹ und Mo Yan: 天堂蒜薹之歌 /›Die Knoblauchrevolte‹. Eine vergleichende Analyse aus westlicher Sicht«.
| Herausgeber/in: | Mo Yan (*1955) |
|---|---|
| Genre: | Autobiographie, Gegenwartsliteratur |
| Verlag: | Carl Hanser, 2014 |
| Übersetzung: | Aus dem Chinesischen von Martina Hasse |
| Originaltitel: | »Change«, bei Seagull Books, 2010 |
