Zeit Der Nordwanderung
Tayyib Salih
Nach sieben Jahren im europäischen Ausland, als Student der Anglistik und ausgezeichnet mit einem Doktortitel, kehrt der Erzähler zurück in den Sudan in das Dorf am Nil, in dem er aufgewachsen ist. Er kehrt zurück zu den schmerzlich vermissten Verwandten, Nachbarn und zur Dorfgemeinschaft, und auch zu der Landschaft, die seine Kindheit und Persönlichkeit geprägt haben und als deren Teil er sich empfindet. Er wird herzlich aufgenommen und findet sich langsam wieder ein in das dörfliche Leben und deren Gepflogenheiten. Bei seiner Ankunft hält das kleine Dorf keine Überraschungen für ihn bereit, ausser der Bekanntschaft mit dem bei den Dörflern allseits beliebten Mustafa Said, der während seiner Abwesenheit aus Karthum kommend in das Dorf gezogen ist und dort Land gekauft hat, um Landwirtschaft zu betreiben und dort zu leben. Mustafa trägt ein Geheimnis mit sich, da ist sich der Erzähler gewiss, und so lässt er nicht locker, bis ihn jener einweiht, unter der Bedingung es niemandem im Dorf zu verraten. Mustafa ist kein einfacher Bauer, für den er sich ausgiebt. Er hat einst, wie der Erzähler, als besonders begabter Schüler eine höhere Schulbildung erlangt, in einer Zeit, zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts, in der Schulen im Sudan erst eingeführt wurden. Und er hat als erster Sudanese in London ein Studium begonnen, dass er mit einem Doktortitel abgeschlossen hat. Dies und die dramatischen Gründe für Mustafas Rückkehr in den Sudan behält der Erzähler wie versprochen für sich und begibt sich nach einiger Zeit nach Karthum, um dort seine Arbeit als Mitarbeiter im Ministerium für Grundschulwesen zu beginnen. Doch der Fremde lässt ihn nicht los und so bekommt er, nach dessen plötzlichen und mysteriösen Tod während eines Nilhochwassers, durch einen Brief im Nachlass des Toten die Vormundschaft seiner beiden Kinder zugesprochen. Dieser Verantwortung versucht er dann auch gerecht zu werden und verbringt jedes Jahr zwei Monate in seinem Dorf, um nach dem Rechten zu sehen. Nachdem er während eines solchen Besuches gewahr wird, dass die junge Witwe und Mutter der Kinder Mustafas mit einem alten, über 70-jährigen Dorfbewohner zwangsverheiratet werden soll, überschlagen sich die Ereignisse.
Die Geschichte umfasst einen Zeitraum vom Beginn des Jahrhunderts bis in die sechziger Jahre, in die Zeit nach der Kolonisation des Sudans durch die Engländer. Dabei beschreibt sie, neben der kolonialen Perspektive, die über die beiden Hauptpersonen differenziert betrachtet wird, auch eine Spanne von Positionen und kulturellen Gegensätzen, die sowohl im Verhältnis zwischen Norden und Süden, zwischen Europa und Afrika, als auch innerhalb der sudanesischen Gesellschaft, im dörflichen Leben, zwischen Mann und Frau und in der Spannung zwischen Karthum und dem ländlichen Sudan aufgegriffen werden. Wie im Nachwort, der oben aufgeführten Ausgabe, von Hartmut Fähndrich beschrieben, stellt die »Verflechtung unterschiedlicher Standpunkte« eine einzigartige Stärke der Erzählung dar. Ein liberaler und humanitärer Geist, der die Unteilbarkeit der menschlichen Gesellschaft und seiner Individuen unterstreicht, ist dem Buch dabei eingeschrieben.
Autor/in: | Tayyib Salih (1929–2009) |
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Genre: | Gesellschaftsroman, Entwicklungsroman |
Verlag: | Lenos, 1998 |
Übersetzung: | Aus dem Arabischen von Regina Karachouli |
Originaltitel: | »Mausim al-hiǧra ilā š-šimāl«, bei Zeitschrift Hiwâr, Libanon, 1966 |